Prader-Willi-Syndrom

Prader-Willi-Syndrom: Was ist das?

Eine Übersicht

Die schweizerischen Ärzte Andrea Prader, Alexis Labhart und Heinrich Willi haben das nach ihnen benannte Syndrom Mitte der 50er Jahre des letzten Jahrhunderts zum ersten Mal detailliert unter wissenschaftlich-medizinischen Gesichtspunkten beschrieben (1). Zu diesem Zeitpunkt waren die eigentlichen Ursachen allerdings noch nicht bekannt. Erst 1981 fand man heraus, dass die Symptome des Prader-Willi-Syndroms, oder auch kurz PWS, auf eine genetische Veränderung am Chromosom 15 zurückgehen. Das PWS ist recht selten. Ungefähr 1 von 15000 neugeborenen Kindern ist davon betroffen. Wie man heute weiß, verändert dieser angeborene Chromosomendefekt Prozesse im Gehirn. Der Hypothalamus arbeitet bei Menschen mit dem Prader-Willi-Syndrom anders als bei anderen Menschen. Diesem Abschnitt des Zwischenhirns fallen wichtige Steuerungsaufgaben für das vegetative Nervensystem zu. Die Funktionen des vegetativen Nervensystems lassen sich normalerweise nicht direkt willentlich beeinflussen.

Symptome

Die für das Prader-Willi-Syndrom ursächliche genetische Veränderung führt zu einer Reihe typischer Symptome, die jedoch von Fall zu Fall unterschiedlich stark ausgeprägt sein können.

  • Fast alle Menschen mit PWS zeigen schon als Säuglinge eine verminderte Muskelspannung (Muskelhypotonie), die als Veranlagung lebenslang fortbesteht
  • Die Betroffenen bleiben meist eher klein, sofern nicht eine Behandlung mit Wachstumshormonen erfolgt, und auch die Geschlechtsorgane bleiben schwächer ausgebildet. Dies geht auf eine verminderte Ausschüttung von Wachstums- und Geschlechtshormonen zurück
  • Schwierigkeiten bei der Nahrungsaufnahme und die Gefahr von Untergewicht im Säuglings- und beginnenden Kleinkindalter, schlagen im Alter von 2 bis 3 Jahren ins Gegenteil um. Menschen mit PWS haben niemals das Gefühl, satt zu sein. Deshalb entwickeln sie einen unstillbaren Appetit bzw. ein unkontrolliertes Essverhalten, durch das eine starke Gewichtszunahme und Fettleibigkeit droht
  • PWS-Betroffene zeigen außerdem einige Besonderheiten im persönlichen Erleben und Verhalten. Sie können sehr impulsiv sein und neigen zu starken Gemütsregungen und auch -schwankungen, die sie schwerer kontrollieren können, als andere Menschen. Außerdem sind sie schneller frustriert, ichbezogen und haben Schwierigkeiten, sich in andere hineinzuversetzen
  • Die geistigen Fähigkeiten sind bei PWS-Betroffenen sehr unterschiedlich ausgeprägt und reichen von IQs über 70, über leichte oder mäßige Lernbehinderung (in ca. 60% der Fälle) bis hin zu schwerer geistiger Behinderung (5-10%)

Auswirkungen der Symptome im Alltag

Menschen mit dem Prader-Willi-Syndrom haben immer Hunger

Eines der wohl augenfälligsten Merkmale des PWS ist ein übermäßiges, suchtartiges Hungergefühl. Da sich bei den Betroffenen niemals ein Sättigungsgefühl einstellt, können sie selbst kaum oder gar nicht kontrollieren, wieviel und was sie essen. Ihr Zwischenhirn signalisiert ihnen niemals, dass sie satt sind.

Deshalb führt das PWS zumeist zu starkem und gesundheitsgefährdendem Übergewicht, wenn die Nahrungsaufnahme nicht von außen begrenzt wird. Da das Prader-Willi-Syndrom außerdem mit einer angeborenen Muskelschwäche einhergeht, fällt den Betroffenen Bewegung ohnehin deutlich schwerer als anderen Menschen. Unkontrolliertes Essverhalten, fehlende Bewegung im Zusammenspiel mit den psychologischen Besonderheiten können so in eine schwer zu durchbrechende Spirale führen, die im schlimmsten Falle auch zu lebensbedrohlichem Übergewicht führen kann.

Wie sich leicht vorstellen lässt, ist das Essen für Menschen mit PWS genauso wie für ihre Familien und Bezugspersonen ein zentrales und zumeist problematisches Thema im Alltag.

In einer Spezialeinrichtung für Menschen mit dem Prader-Willi-Syndrom wie dem Niedersachsenhof ist es möglich, diese zentrale Problematik abzumildern: Die Abstände zwischen den Mahlzeiten sind kurz und der Zugang zu Lebensmitteln lässt sich kontrollieren. Ein breitgefächertes Therapie- und Sportangebot ermöglicht darüber hinaus eine gezielte Förderung der körperlichen Verfassung, der motorischen Fähigkeiten aber auch der sozialen Kompetenz.

Mit Konflikten können PWS-Betroffene nicht gut umgehen.

Neben dem fehlenden Sättigungsgefühl weist das Verhalten von Menschen mit dem Prader-Willi-Syndrom einige weitere Besonderheiten auf. Sie sind sehr impulsiv. Bei positiven Gefühlen zeigt sich das mit überbordender Freude und ansteckender Fröhlichkeit. Andererseits können sie aus scheinbar unbedeutendem Anlass schnell frustriert und mit Gefühlsausbrüchen oder Wutanfällen reagieren, in die sie sich unter Umständen so weit hineinsteigern, dass sie sie gar nicht mehr kontrollieren können.

Im zwischenmenschlichen Umgang können auch wegen der mehr oder weniger starken kognitiven Beeinträchtigungen von PWS-Betroffenen Missverständnisse und in der Folge Konflikte entstehen. Auch wenn die Missverständnisse schnell ausgeräumt werden könnten, zeigen sich die Betroffenen in diesen Situationen oftmals sehr „stur“ und beharren auf der eigenen Sichtweise: Auf Grund der Besonderheiten ihres Zwischenhirns (fehlende Feedbackschleife) sind sie nicht oder nur sehr eingeschränkt in der Lage, ihre Impulse zu kontrollieren oder im Zustand emotionaler Erregung ihre Aufmerksamkeit auf die neuen Informationen zu lenken und neue Sinneseindrücke zu verarbeiten.

Diese Situationen können sich bis zu Krisen steigern, in denen es zu fremd- oder selbstverletzendem Verhalten bzw. Fremd- und Autoaggression kommt. In diesem Fall ist es nötig, alle Beteiligten vor Verletzungen zu schützen und gegebenenfalls einzugreifen.

Näheres zur Krisenintervention und -Vorbeugung erläutert dieser Text des Diplom-Psychologen Martin Mettenleiter. 

(1) Prader, A./Labhart, A./Willi, H. – Ein Syndrom von Adipositas, Kleinwuchs, Kryptorchismus und Oligophrenie nach myatonieartigem Zustand im Neugeborenenalter. In: Schweizerische Medizinische Wochenschrift, 1956